„Tschernobyl ist nicht Vergangenheit – es ist Gegenwart und Zukunft“: Zeitzeugengespräch an der Geschwister-Scholl-Realschule
- andrea16064
- 10. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Es war ein besonderer und zugleich eindringlicher Vormittag für die Zehntklässlerinnen und Zehntklässler der Geschwister-Scholl-Realschule in Bergheim (Rhein-Erft-Kreis): Unser Verein hatte zu einem Zeitzeugengespräch eingeladen, das unter die Haut ging. Im Rahmen des Physikunterrichts, in dem das Thema Atomenergie auf dem Lehrplan steht, wurde ein Blick zurückgeworfen auf eine der schlimmsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte – die Reaktorexplosion in Tschernobyl im April 1986. Doch an diesem Tag ging es nicht um Zahlen und technische Daten, sondern um persönliche Schicksale, Erfahrungen und die unauslöschlichen Spuren, die dieses Ereignis bis heute hinterlässt.

Zu Gast war Anatolii Gubariev, einer der sogenannten „Liquidatoren“. So nennt man jene rund 800.000 Menschen, die nach der Explosion zur Eindämmung der Katastrophe eingesetzt wurden – meist ohne ausreichende Information, ohne Schutz, ohne Wahl. 35 Tage lang kämpfte er am Unglücksort – mitten in der radioaktiven Hölle. Er berichtete von dieser Zeit mit ruhiger Stimme, eindrücklich und bewegend. Von den Umständen seiner Einberufung, vom Gefühl der Ohnmacht, vom Schweigen der Behörden – und von der menschlichen Seite einer Katastrophe, die bis heute nachwirkt.
Unterstützt wurde das Gespräch von Olga Bondarewa aus Belarus, die das Zeitzeugengespräch dolmetschte. Auch sie ist durch ihre eigene Geschichte mit Tschernobyl verbunden: Als Kind lebte sie in einem stark vom radioaktiven Fallout betroffenen Gebiet in Belarus. Viele Jahre durfte sie im Rahmen unserer vom Verein organisierten Gastkinder-Erholungsreisen nach Deutschland kommen, um sich zu erholen. Heute engagiert sie sich ehrenamtlich für Familien mit behinderten Kindern in Belarus und ist Vorstandsmitglied unseres Partnervereins MosaikaAktiv in Mogiljow.
Eine weitere Stimme des Vormittags war Inna Maassen, ebenfalls ehrenamtlich für unseren Verein tätig. Die gebürtige Ukrainerin lebt seit 25 Jahren in Deutschland und erinnert sich noch gut an das Jahr 1986 – an das bedrückende Schweigen in der Schule, an Mitschülerinnen und Mitschüler, die plötzlich über Übelkeit und Nasenbluten klagten, ohne zu wissen, dass dies bereits Folgen der Explosion waren. Niemand wurde gewarnt. Niemand wurde geschützt. Und währenddessen fanden die Maiparaden in Kiew und Minsk wie gewohnt statt – als wäre nichts geschehen.
Die Schülerinnen und Schüler hörten aufmerksam zu, als Herr Gubariev von seinem Einsatz erzählte. Davon, wie er mit anderen Männern – viele ohne jegliche Erfahrung im Feuerwehrdienst – in nur zwei Tagen ausgebildet wurde. Wie sie in Gummianzügen, mit unzureichendem Schutz, in Teams von zwei Mann Löschwasserschläuche über das Reaktorgelände zogen – unter Zeitdruck, in glühender Hitze, mit Atemmasken, die sie oft abnehmen mussten, weil sie darunter kaum Luft bekamen. Wie sie nach dem Einsatz erschöpft, mit Hautausschlägen und Kreislaufproblemen zusammenbrachen.

Er berichtete auch von der Fahrt in das Einsatzgebiet – und wie ihm auf dem Weg ein junges Paar auf einem Motorrad entgegenkam, ein Baby auf dem Arm. Alle drei hatten sich mit Plastikfolie umwickelt. Die Menschen flohen, ohne zu wissen, wovor genau. Und sie flohen viel zu spät.

Was ihn für seinen Einsatz erwartete? Eine Medaille – der Liquidatoren-Orden mit Symbolen für Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung und einem Blutstropfen. Zwei zusätzliche Urlaubstage. Und ein doppeltes Gehalt – umgerechnet 50 Euro. Eine Schülerin, selbst aktiv bei der Freiwilligen Feuerwehr, dankte ihm für seinen Mut. Sie könne sich kaum ausmalen, wie man solch einen Einsatz bewältigen könne. Ein weiterer Schüler fragte, ob man den Einsatz damals hätte verweigern können. Die Antwort von Anatolii Gubariev war klar: Nein. Die patriotische Haltung jener Zeit ließ das nicht zu – und die Angst vor den drohenden Konsequenzen auch nicht.
Seine Geschichte ist keine Vergangenheit. Seine gesundheitlichen Folgen begleiten ihn bis heute. Erst 1989, während einer Erholungsreise mit einer Kindergruppe nach Nürnberg, wurde bei ihm Hautkrebs diagnostiziert – Sarkome, ausgelöst durch die hohe Strahlenbelastung. Zweimal wurde er von deutschen Ärzten operiert. Nur durch diese Behandlungen, so sagt er selbst, kann er heute vor Jugendlichen stehen und seine Geschichte erzählen.
Seine Geschichte ist keine Vergangenheit. Seine gesundheitlichen Folgen begleiten ihn bis heute. Erst 1989, während einer Erholungsreise mit einer Kindergruppe nach Nürnberg, wurde bei ihm Hautkrebs diagnostiziert – Sarkome, ausgelöst durch die hohe Strahlenbelastung. Zweimal wurde er von deutschen Ärzten operiert. Nur durch diese Behandlungen, so sagt er selbst, kann er heute vor Jugendlichen stehen und seine Geschichte erzählen.
Am Ende seines Vortrags richtete Anatolii Gubariev einen Appell an die Jugendlichen:„Ich wünsche euch, dass Ihr nie so etwas erleben müsst. Ihr seid die Gestalter der Zukunft – gebt auf sie acht und engagiert euch.“
Für viele Schüler*innen war dies kein gewöhnlicher Schulvormittag – sondern ein Moment, der bleibt. Ein Einblick in eine verdrängte Wahrheit, ein Fenster in die Geschichte und zugleich ein Spiegel für unsere Verantwortung heute. Denn Tschernobyl ist nicht vorbei. Es betrifft uns noch immer – gesundheitlich, ökologisch, gesellschaftlich. Weite Teile der Ukraine, von Belarus und Russland sind bis heute radioaktiv kontaminiert. Auch Gebiete in Westeuropa waren betroffen. Die Folgen sind nicht überwunden, denn die freigesetzten Radionuklide strahlen Jahrhunderte.
Unser Verein plant daher für das Jahr 2026 – zum 40. Gedenktag der Katastrophe – weitere Zeitzeugengespräche. Weil Erinnern nicht reicht. Weil Aufklären notwendig bleibt. Weil wir Verantwortung tragen – für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
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